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Interview mit Anja Teltschik im Herbst 2005

anja-Wien2.jpg Anja Teltschik arbeitet seit mehreren Jahren in leitenden Posititionen für nationale und internationale Hilfsorganisationen im Bereich Public Health und HIV/Aids. Seit Anfang 2003 lebt und arbeitet sie in der Ukraine.

Frage: Wie sieht die derzeitige Lage in der Aids-Versorgung in der Ukraine aus, seitdem die zweite Tranche der Global-Fund-Gelder in der Ukraine angekommen ist?

A.T.: Es kommt darauf an, ob wir den Bereich Prävention oder den Bereich Behandlung betrachten. Momentan werden etwa 2.700 Patienten in der Ukraine mit antiretroviralen Medikamenten behandelt. Das Hauptproblem besteht derzeit darin, daß die meisten Gelder für die Behandlung aus dem GFATM, also internationalen Geldquellen, kommen und die Investitionen seitens der Regierung weiterhin sehr gering sind. Der Ausbau der Behandlung geht zu langsam voran, wobei neben den Hauptbetroffenengebieten inzwischen andere Gebiete in das Behandlungsprogramm mit einbezogen wurden. Ein zusätzliches Problem ist, daß wir gerade erst beginnen, in der Ukraine Substitutionstherapie einzuführen, d.h. es handelt sich um Pilotprojekte, die zunächst evaluiert werden müssen, bevor eine grössere Flächendeckung erreicht werden kann.

Im Bereich Prävention haben wir weiterhin das Problem, daß es keine vernünftige Koordinierung gibt.
Die Präventionsprojekte, die im Rahmen des GFATM-Projektes umgesetzt werden, konzentrieren sich vor allem auf intravenöse Drogengebraucher und Prostituierte in den acht Hauptprioritätsregionen. Aber der weitere Ausbau, d.h. die Übertragung der Erfahrungen aus diesen Projekten in andere Gebiete, findet derzeit kaum statt.

Im Bereich der psycho-sozialen Versorgung und Unterstützung taucht immer wieder das Problem auf, daß viele Patienten keine ausreichenden Vorabinformationen über die Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten haben und viele Vorurteile der Behandlung gegenüber bestehen. Das All-Ukrainische Netzwerk der Menschen, die mit HIV/Aids leben, hat erst im letzten Jahr begonnen, verstärkt Aufklärung in diesem Bereich zu betreiben und es muß noch sehr viel getan werden.
Momentan versucht unsere Organisation (AFEW) gemeinsam mit dem Netzwerk im Rahmen einer Medienkampagne, die unter anderem gezielt Informationen an Menschen, die mit HIV/Aids leben und an potentiell Betroffene vergibt, erstmals, Informationen über den HIV-Test und die Möglichkeiten einer Behandlung, an die gesamte Bevölkerung in der Ukraine zu vermitteln.
Denn in der Ukraine wurde das Pferd sozusagen von hinten aufgezäumt. Erst wurde sich darum gekümmert, die Medikamente ins Land zu bringen, dann wurden in aller Eile Behandlungsteams ausgebildet, und erst jetzt fangen wir damit an, die Bevölkerung entsprechend zu informieren und das ist natürlich schwierig.


Frage: Weil es so schnell gehen mußte oder warum?

A.T.: Ja, der Druck lag auf allen - auf dem GFATM sowie auf den Organisationen vor Ort. Die Ukraine ist eines der Länder mit der höchsten HIV-Infektionsrate in Europa und von daher lag ein enormer Druck auf allen Seiten, möglichst schnell, die antiretrovirale Behandlung einzuführen.


Frage: Wie sehen Sie die Perspektive ab 2008, wenn die Global-Fund-Gelder auslaufen?

A.T.: Die Perspektiven für die Menschen, die bislang und bis 2008 eine antiretrovirale Behandlung über das GFATM-Projekt bekommen, sind noch unklar, da es bisher keine Zusicherung einer Finanzierung durch die Regierung gibt.
Meines Erachtens muss sehr viel mehr Druck von Seiten des GFATM und anderen kommen und eine Vereinbarung getroffen werden, daß die Behandlung gesichert wird. Wie Sie wissen, sprechen wir über lebenslange Behandlung. Von Seiten der Regierung ist die Anzahl derer, die in der Ukraine im nächsten Jahr auf Behandlung gesetzt werden, minimal und langfristige Pläne haben wir bis jetzt noch nicht gesehen. Aber wir haben wieder einen neuen Minister und von daher kann ist es noch zu früh, um sagen zu können, wie sich die Regierung in der kommenden Zeit zu diesem Thema verhalten wird.


Frage: Hat die Ukraine denn überhaupt das Geld für eine Fortsetzung der Finanzierung?

A.T.: Das ist natürlich die Frage. Ich denke, das hängt vor allem mit der Preispolitik zusammen. Das Beispiel Afrika hat deutlich gezeigt, daß die Behandlung nicht unbedingt so teuer sein muß, wie sie es in Europa zum Teil ist. Auf der anderen Seite ist die Ukraine nicht das allerärmste Land in Europa. Es ist auch ein Thema der Prioritäten und der Ressourcenzuordnung. Ich denke, daß die Ukraine durchaus die Gelder zur Verfügung hätte. Und es ist ethisch nicht vertretbar, ein Projekt, wie das des GFATM als Regierung zu unterstützen und nach Ende des Projektes, die Behandlung von so vielen Menschen abzubrechen.

Frage: Bitte erzählen Sie uns von Ihrem Gefängnisprojekt. Wie ist die Situation dort?

A.T.: Momentan hat unsere Organisation in der Ukraine noch kein Gefängnisprojekt. Im vergangenen Jahr haben wir (hier: AFEW) aber gemeinsam mit der staatlichen Abteilung für Gefängnisse den Bedarf, vor allem im Bereich Ausbildung ermittelt. Unsere Organisation führt jedoch Gefängnisprojekte in Rußland und in Zentralasien durch und aufgrund des Bedarfs, wäre es wichtig, auch in der Ukraine ein Projekt zu starten. Vor allem auch, da die Ukraine die zweithöchste Inhaftierungsrate Europas aufweist und wie überall in Osteuropa und Zentralasien ist die Anzahl der intravenösen Drogengebraucher in den Gefängnissen hoch. Daher gehen wir davon aus, dass eine nicht unbedeutende Zahl von Gefangenen mit HIV/Aids lebt. Mir sind aber keine endgültigen, öffentlich zugänglichen Zahlen über die Anzahl betroffener Menschen in den Gefängnissen bekannt. Das liegt unter anderem daran, dass der HIV-Test in der Ukraine freiwillig ist.


Frage: Können Sie etwas über die Haftbedingungen sagen?

A.T.: In ganz Osteuropa, auch in den Gefängnissen in denen ich persönlich war, kommt es grundsätzlich auf das Gefängnis und den Gefängnisleiter an. Es gibt große Unterschiede.
In manchen Gefängnissen ist der Standard annehmbar und in anderen ganz und gar nicht, vor allem auch in den Krankenhäusern der Gefängnisse.
Viele Gefängnisleitungen der staatlichen Gefängnisse sind sich dessen durchaus bewusst und deshalb durchaus offen für Kooperationen.


Frage: Was haben Sie genau vor, in den Gefängnissen zu machen?

A.T.: Es gab bereits einige Präventionsprojekte in den ukrainischen Gefängnissen. Bedauerlicherweise wurden die meisten Projekte nicht institutionalisiert, vor allem, was die Ausbildung angeht. Es gibt ein Netzwerk regionaler Ausbilungszentren, die an ein nationales Zentrum angebunden sind. Und dort würden wir gerne ansetzen wollen. Dabei wäre der Fokus nicht nur auf HIV-Prävention, sondern allgemein auf Gesundheitsförderung, um auch angrenzende Gebiete abzudecken. In weiteren Schritten müsste das Thema Behandlung in den Gefängnissen und Auffangen der Gefangenen nach der Entlassung angegangen werden, sowie Hilfe bei der Reintegration. Aber wie gesagt, das sind bisher nur Pläne, die noch der Finanzierung bedürfen.


Frage: Stimmt es, daß die Diskriminierung von Inhaftierten in der Ukraine sehr viel schlimmer ist, als es in Westeuropa der Fall ist? Würden Sie dem zustimmen?

A.T.: Grundsätzlich würde ich sagen, daß die Diskriminierung von Menschen mit HIV/Aids in der Ukraine, Osteuropa und Zentralasien allgemein noch sehr viel höher ist als in Westeuropa. Ich würde das nicht auf die Gefängnisse allein beziehen, sondern es als ein grundsätzliches Problem bezeichnen. Deshalb führt unsere Organisation großangelegte Solidaritätskampagnen gemeinsam mit dem All-Ukrainischen Netzwerk, der Menschen, die mit HIV/Aids leben, durch. Und wenn wir zwanzig Jahre zurückschauen, war es selbst in Deutschland nicht anders. Einstellungen und Verhalten zu verändern, ist ein langfristiger Prozess.


Frage: Sehr viele der Gefangenen sind ja wegen Drogengebrauch und Drogenbesitzes inhaftiert. Mit unserem Thema ist das sehr eng verbunden, denn nach einem neuen Erlaß kann man schon beim Besitz von geringsten Mengen Drogen für 2-3 Jahre inhaftiert werden. Welche Auswirkungen hat das?

A.T.: Wir haben jetzt schon überfüllte Gefängnisse in der Ukraine und ein großes Problem mit HIV und Tuberkulose. Sollte die Inhaftierungsrate noch weiter steigen, werden auch diese Probleme weiter ansteigen und es wird immer schwieriger werden, sie in den Griff zu bekommen.

Frage: Auf der einen Seite gibt sehr viel staatliche Gelder über den Global Fund und Strategien, Menschen straffrei zu halten, Substitutionsprogramme und einen demokratischeren Kurs einzuführen, und auf der anderen Seite, erscheint es mir, daß es eine gegenläufige Tendenz zu stärkerer Verfolgung von Seiten des ukrainischen Staates gibt. Stehen diese beide Positionen auch innerhalb der ukrainischen Regierung gegeneinander?

A.T.: Wie in jeder Regierung und gerade in Osteuropa gibt es immer verschiedene Strömungen und dieses Thema ist noch nicht abgeschlossen. Deswegen ist es zu früh, über die Konsequenzen zu sprechen, denn zur Zeit wird in der Ukraine noch diskutiert und das Land hatte gerade eine Regierungskrise. Es gibt jetzt neue Minister, ein neues Ministerkabinett, zum jetzigen Zeitpunkt ist es schwer, einzuschätzen, wie sich alles weiterentwickeln wird. Im nächsten Jahr (2006!) stehen Parlamentswahlen an. Auch die werden die Situation stark beeinflussen. Wir haben allerdings momentan den Eindruck, daß viel diskutiert und aufgewirbelt wird, was im Grunde kein Thema ist, da wir kurz vor den Wahlen stehen.
Es gibt immer verschiedenen Meinungen, nehmen wir nur das Thema Substitutionstherapie. Wir müssen schauen, wie sich die neuen Minister und das neue Kabinett zu diesen Themen stellen, zum jetzigen Zeitpunkt ist das leider nicht absehbar. Auch die Position des neuen Gesundheitsministers kennen wir noch nicht, deswegen ist es verfrüht, über kommende Entwicklungen zu sprechen.


Frage: Wir waren in einer Kolonie in Donetsk. Dort wurden uns sehr fortschrittliche und saubere Einrichtungen vorgeführt. Inhaftierte erzählten uns allerdings ganz andere Seiten und die Institution entpuppte sich als reine Kulisse. Birgt dies nicht eine große Gefahr für Ihre Projekte?

A.T.: Für unsere Projekte nicht, denn dieses Problem hatten wir weder in Russland, noch in Zentralasien. Zum einen sind wir keine Journalisten und zum anderen, halten wir uns an die Regeln, wenn wir gebeten werden, mit bestimmten Dingen nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Jeder hat seine Regeln und wenn wir hier arbeiten und wirklich etwas verändern wollen, dann müssen wir diese Regeln beachten. Wir können zwar auf die Notwendigkeit, die Regeln zu verändern, hinweisen, aber mehr ist uns selten möglich.
Glücklicherweise hatten wir diese Probleme bislang nicht. Ich denke, daß es ein Überbleibsel aus den vorherigen Sowjetzeiten ist, daß grundsätzlich eher das Schöne gezeigt wird, wenn die Presse kommt.

In Rußland waren wir sehr überrascht, wie offen das Justizministerium uns als NRO gegenüber war. In der Ukraine war es ähnlich, als wir den Bedarf ermittelten.


Frage: Das ist etwas, was ich mir schwierig vorstelle. Alles was Sie an Programmen machen, ist ja besonders in Relation zu dem, was wir von den Lagerverhältnissen in der Ukraine gehört haben, sehr menschlich, d.h. es gibt einen sehr menschlichen Umgang mit den Gefangenen. Ist es nicht eine harte Konfrontation mit den sehr brutalen Machtstrukturen innerhalb der Gefängnisse, sowohl zwischen Wärtern und Gefangenen, als auch innerhalb der Gefangenenhierarchie?

A.T.: In Russland beinhaltet das Projekt unserer Organisation beispielsweise den Ansatz des Peer-Counselling und der Peer-Education unter den Gefangenen. Wichtig ist, am Anfang ganz oben anzusetzen und dort Überzeugungsarbeit zu leisten und das Verständnis für die geplanten Ansätze zu schaffen. Denn wenn in der Regierung und ganz Oben in der Gefängnisstruktur nicht die Einsicht vorliegt, daß das Problem wirklich groß ist und eine Kooperation mit einer NRO notwendig ist, um das Problem effektiv anzugehen, dann werden Sie auch auf den unteren Ebenen nicht viel verändern können.
Wir sagen nicht, daß es einfach ist. Wenn man sich unsere Projekte in Russland und Zentralasien anschaut, steckt jahrelange Arbeit dahinter. Deshalb ist AFEW auch primär in langfristigen Projekten involviert, weil wir aus Erfahrung wissen, daß man in stark hierarchischen und traditionellen Strukturen, wie dem Gefängnissystem, nichts schnell verändern kann. Das braucht Jahre und in Rußland mußten wir bei null anfangen.

Zum Problem Gefangener untereinander: aus persönlicher Erfahrung, auch aus anderen Ländern, ist es meines Erachtens kein spezielles osteuropäisches Problem, daß die Gefangenen untereinander Schwierigkeiten haben. Ich habe das auch in Gefängnissen in Westeuropa, in denen ich gearbeitet habe, erlebt. Zum Beispiel gibt es immer wieder Spannungen, wenn Gefangene aus dem Ausland kommen.
Ich denke, jeder weiss, dass in Gefängnissen viel passieren kann. Wenn wir Peer-Counsellors ausbilden, ist das immer ein grosses Thema. Die interne Stigmatisierung und Diskriminierung unter den Gefangenen muß oft zunächst bearbeitet werden, bevor überhaupt das Thema HIV erfolgreich angesprochen werden kann.


Frage: Wir haben gehört, daß die Vollzugsbeamten zu den Hauptdealern gehören, weil sie ein sehr niedriges Gehalt bekommen, das kaum zum Leben reicht. In vielen Bereichen der ukrainischen Gesellschaft von heute ist es so, daß Korruption keine Ausnahme ist, sondern für viele Menschen Lebensbedingung.
Befürchten Sie Konfrontationen mit diesen Strukturen, wenn Sie anfangen, in den Gefängnissen Antidrogenpolitik zu machen?

A.T.: Antidrogenpolitik gehört nicht direkt zu unseren Aufgabenfeldern. Wir sind eine Organisation, die sich primär um HIV/Aids und entsprechende Ko-Infektionen, wie zum Beispiel Tuberkulose kümmert. Das Thema Drogen beschäftigt uns insoweit es sich auf das Thema HIV bezieht. Nadelaustauschprogramme gehören natürlich dazu. Aber in Russland ist es zum Beispiel nicht möglich, Nadeln auszutauschen. Daher mussten wir uns dort primär auf das Thema Reinigung des Spritzenbesteckes konzentrieren.
Auch in der Ukraine ist es bis zu Nadelaustauschprogrammen und Substitutionstherapie in Gefängnissen noch ein weiter Weg.
Aber unser Ansatz ist die Reduzierung von Schaden (Harm Reduction) und nicht die Antidrogenpolitik.
Es gibt andere Organisationen, die sich mit diesem speziellen Thema beschäftigen.


Frage: Aber sobald man ein Substitutionsprogramm zur Erhöhung oder zur Aufrechterhaltung der Adhärenz beginnt, käme man doch in diesen Bereich?

A.T.: Das ist teilweise richtig. Nur momentan sind wir in den Gefängnissen in der Ukraine noch lange nicht soweit, denn wir haben ja gerade erst ausserhalb der Gefängnisse mit Pilotprojekten zur Substitutionstherapie, im Rahmen der antiretroviralen Therapie, begonnen.
Natürlich tritt man Dealern, sobald man Substitutionsprogramme einführt, auf die Füße. Sie werden immer Gefahren haben, wenn Sie in diesem Bereich arbeiten. Wir haben das vor allem bei unseren Straßensozialarbeitern erlebt (Outreach), die speziell ausgebildet werden, denn selbst wenn sie nur Informationen geben und Kondome austeilen wollen, sind sie Gefahren ausgesetzt, da sie mit Zielgruppen arbeiten, die am Rande der Gesellschaft stehen, häufig kriminalisiert und verfolgt werden oder auch mit Verbrecherzirkeln im Kontakt stehen.
Unsere Organisation ist auch in der Qualifizierung von Sozialarbeitern und von Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, tätig, denn Sicherheit der Mitarbeiter ist ein immer wiederkehrendes Thema. Das bezieht sich nicht nur auf die Gefängnisarbeit.
Aufgrund unserer Erfahrungen in Russland und Zentralasien in den Gefängnissen, ist es einfacher, sich in einem rigiden System mit Hilfe von Oben zu schützen, als manchmal auf der Straße, wo sie allem ausgesetzt sind, und sie niemanden zum Schutz haben. Die Polizei ist selten direkt um die Ecke und auch nicht immer sehr hilfsbereit, wenn etwas passiert, und im Gefängnis gibt es zumindest bestimmte Strukturen, die eine Arbeit in den Gefängnissen ungefährlicher macht. Unsere Straßensozialarbeit in Rußland ist sicherlich gefährlicher gewesen, als die Gefängnisarbeit.


Frage: Was kann man dagegen tun, daß fast eine gesamte Gesellschaftsschicht, durch die dauerhafte Inhaftierung aus dem System gerät? Sie sagten bereits, daß unterschiedliche Kräfte in der Regierung, sowie in der Gesellschaft aufeinander treffen. Gibt es eine Tradition zur Inhaftierung von unliebsamen Menschen?

A.T.: In der ehemaligen Sowjetunion ganz sicher und in einigen anderen Staaten in Osteuropa, haben wir das Problem auch noch.
Als NRO sind ihnen da häufig die Hände gebunden. Wir können zwar auf Missstände immer wieder aufmerksam machen, aber unsere Stimme trägt teilweise kaum Gewicht. Zudem sind wir kein grosser Geldgeber, wie zum Beispiel der GFATM, dessen Stimme allein durch seine Funktion mehr Gewicht trägt.

Als NRO müssen Sie meist immer wieder auf die andere Seite zugehen und das Gespräch suchen.
Hier in der Ukraine sind mit der neuen Regierung und mit der Einführung des Nationalen Koordinierungsrates Strukturen geschaffen worden, die es jetzt NROs ermöglichen, eine starke Stimme zu haben, und zum Beispiel für Nadelaustauschprogramme in den Gefängnissen werben zu können. Wie die Arbeit des Rates durch den neuen, stellvertretenden Premierminister weitergeführt wird, ist noch unklar, aber zumindest besteht eine Basis für Gespräche und Diskussionen.


Frage: Daß die Straßensozialarbeiter vor Ort gefährdet sind, ist eine Sache, aber ich kann mir insgesamt vorstellen, daß Teile der Allgemeinbevölkerung und Teile der politischen Klasse sehr schlecht über Inhaftierte und ehemalige Strafgefangene denken und es nicht befürworten, daß Sie sich mit diesen Menschen auseinandersetzen, mit ihnen arbeiten und ihnen z.B. auch mit sehr teuren Medikamenten helfen. Bekommen Sie das zu spüren?

A.T.: Ja, das ist ein Thema. Denn wie ich bereits erwähnte, sind Stigmatisierung und Diskriminierung in jeder Gesellschaftsschicht der Ukraine zu finden. Selbst die Menschen, die für die Betroffenen arbeiten, sind nicht immer frei davon. Im Rahmen einer Studie unter Gesundheitsberufen wurde deutlich, dass es gerade auch dort viel Diskriminierung gibt. Das wird durchaus auch vom Gesundheitsministerium so gesehen. Es ist ein langer und schwieriger Veränderungs- und Umdenkungsprozess, der im Grunde recht spät erst in der Ukraine begonnen hat.


Frage: Kann es sein, daß andere Gesundheitsbereiche auch einfach neidisch sind auf die Gelder, die in den AIDS-Bereich fließen?

A.T.: Auf jeden Fall. Denn es gibt abgesehen von der HIV- und der Tuberkuloseepidemie noch viele andere, gesundheitliche Probleme und Themen. Und wie in jedem Land, sind die Ressourcen begrenzt und es gibt jedes Jahr einen Kampf um die Ressourcen. Selbst die Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums, die im Bereich HIV/Aids tätig sind, stellen ab und zu die Frage, ob es nicht wichtiger wäre, in andere Bereiche mehr zu investieren.
Allerdings ist es bereits ein grosser Schritt nach vorne, wenn offen darüber diskutiert wird und man nicht sofort eine Absage erhält.

Natürlich müssen die Investition in die Prävention, die Behandlung und psycho-soziale Versorgung von Seiten der Regierung dringend erhöht werden. Es reicht nicht aus, und meines Erachtens wäere es langfristig gesehen auch ein Fehler, wenn die meisten Dienstleistungen im Bereich HIV/Aids nur über westliche Gelder finanziert würden.
Im Rahmen des Weltbankprojektes kam es zu einer zusätzlichen Investition seitens der ukrainischen Regierung, nur bedauerlicherweise stagniert das Projekt weiterhin.
Es muß mehr seitens der Regierung investiert werden und es muss auch eine Garantie für Patienten, die mit HIV/Aids leben geben, dass ihre Behandlung auch nach Beendigung von internationalen Projekten, kostenlos weitergeführt wird.

Das Interview fand im Oktober 2005 im Rahmen der Dreharbeiten zu unserem zweiten Film über AIDS in der Ukraine statt. Die Fragen stellte Karsten Hein.

Transkription: Dani Staack

29.08.2006 | Kategorie:


1 Kommentar

Aloys Schepers | 13.03.07 11:09

Liebe Frau Teltschik!
Zunächst möchte ich Sie herzlich grüßen.
Nach den Berichten in Zeitungen, Funk und Fernsehen über den Aids-Kongreß in Bremen habe ich soeben das Interview mit Ihnen vom 29.8.06 im Internet gelesen. Mit großer Achtung vor der Bedeutung und Kompetenz Ihrer Arbeit grüße ich Sie sehr herzlich. Ich wünsche Ihnen für Ihr persönliches Wohlbefinden und Ihr berufliches Schaffen viel Segen, Kraft und Erfolg.
Gern erinnere ich mich an Sie während Ihrer Studienzeit in Münster.
Ihr
Aloys Schepers

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